„Menschen sind zu einer Naturkraft geworden, die den Planeten auf der geologischen Skala umgestaltet“, hatte das britische Nachrichtenmagazin „The Economist“ posaunt. Es begrüßte seine Leser auf der Titelseite mit der Zeile „Willkommen im Anthropozän“; darunter prangte eine Erdkugel, die von Menschen umgestaltet wird.
15 Jahre war alles glattgegangen, Medien hatten die Kampagne für das neue Erdzeitalter begeistert unterstützt. Das Anthropozän habe begonnen. Das Wirken des Menschen habe die Erde in eine neue geologische Epoche befördert, überall auf dem Planeten wäre der Einfluss des Menschen nachweisbar.
Lehrbücher, Seminare, Politiker, Filme beschworen das Anthropozän, das der Chemie-Nobelpreisträger Paul Crutzen vor 24 Jahren aufgebracht hatte. Er hoffte, der Begriff würde „eine Warnung an die Welt sein“, sagte Crutzen.
Dabei war der Begriff wissenschaftlich nie anerkannt worden.
„Das Anthropozän wurde von Anfang an in die Medien gedrückt, eine Werbemaßnahme“, sagt der Geologe Stanley Finney, Generalsekretär der International Union of Geological Sciences. Wissenschaftler und Aktivisten wollten das „Anthropozän“ in der geologischen Zeitskala verankern, denn der Begriff lässt sich politisch nutzen.
Interne Kommunikation, die mir vorliegt, dokumentiert eine bedenkliche Politisierung der Wissenschaft. Für WELT habe ich in mehreren Artikeln berichtet, wie das Entscheidungskomitee für geologische Erdzeitalter unter Druck gesetzt wurde. Hier eine Zusammenfassung:
Die Lobby
Ob das Anthropozän Eingang finden sollte in die geologische Zeitskala wurde seit 15 Jahren intensiv von Geoforschern diskutiert. Die Pro-Argumente ließen sich nicht einfach vom Tisch wischen, schließlich hat die Menschheit gravierende Spuren hinterlassen, weshalb es auf den ersten Blick gute Argumente für die Einführung des Anthropozäns gibt.
Der Begriff “Anthropozän” verselbständigt sich, was typisch ist für wissenschaftliche Themen, die sich politisch ausschlachten lassen. Wie andere populäre Theorien wie die angeblichen Klima-Kipppunkte oder die Stringtheorie für Elementarteilchen war die allgemeine Rezeption der Anthropozän-These der Fachdiskussion enteilt.
Interessierte Geldgeber standen parat. Besonders in Deutschland blühten „Anthropozän“-Kampagnen in Forschung, Kultur, Politik und Medien.
Die Profiteure
Bundesministerien zum Beispiel finanzierten Projekte wie „Gesundheit im Anthropozän“, „Landwende im Anthropozän“, „Ressourcenschonung im Anthropozän“, „Kunst und Anthropozän: Das Anthropozän sichtbar machen“ oder „Hochschule im Anthropozän“.
Auch das 2022 neu ausgerichtete Max-Planck-Institut für Geoanthropologie in Jena wurde gefördert, es will die „Vielfach-Krise des Anthropozäns“ erforschen.
Das „Haus der Kulturen“ in Berlin untersuchte zehn Jahre lang unter Leitung eines Philosophen, „wie die planetarischen und krisenhaften Transformationen des Anthropozäns versteh-, erfahr- und gestaltbar gemacht werden können“; ein „Forum Anthropozän“ versammelte Konferenzen.
Das vermeintliche Erdzeitalter geriet auch zur Chance für strauchelnde Wissenschaftler, Arbeit mit Zeitgeist aufzupeppen.
Eigens gegründeten Fachzeitschriften wie „Anthropocene“, „Anthropocene Science“, „The Anthropocene Review“, oder „Elemanta: Science of the Anthropocene“ publizierten Aufsätze als Studien, die ohne den neuen Modebegriff nicht unbedingt akzeptiert worden wären.
Indes: Geologen hatten den zugrundeliegenden Begriff nie als Zeitalter anerkannt, die wissenschaftlichen Kriterien für ein neues geologisches Zeitalter waren nicht erfüllt.
Um die Anerkennung des Zeitalters bemühte sich seit 2009 die Anthropozän-Arbeitsgruppe (AWG), der nicht nur geologische Experten angehörten. Permanent veröffentlichte die Gruppe aufsehenerregende Aufsätze, gipfelnd im Sommer 2023 mit dem „Ausrufen des neuen Erdzeitalters“, das Medien euphorisch aufgriffen.
Geologische Probleme
Was viele Berichte unterschlugen: Die AWG kann keine geologischen Zeitalter ausrufen. Dafür ist die Internationale Kommission für Stratigraphie (ICS) zuständig, in diesem Fall ihre Untergruppe: die Subcommission on Quaternary Stratigraphy (SQS), die sich um die jüngste Zeit der Erdgeschichte kümmert. Deren Mitglieder hatten sich stets überwiegend skeptisch gezeigt gegenüber dem Anthropozän.
Eine geologische Epoche hat definierte Voraussetzungen einzuhalten, die das Anthropozän nach Meinung der meisten Experten nicht erfüllte.
Eine Epochengrenze muss sich weltweit im Boden niederschlagen und anhand eindeutiger Spuren erkennbar sein. Anerkannte Belege konnten die Anthropozän-Befürworter auch nach 15 Jahren Suche nicht beschaffen.
Menschen haben die Weltgegenden zu unterschiedlichen Zeiten kultiviert, was das Finden einer durchgehenden geologischen Schichtgrenze erschwert.
Globale Auswirkungen wie der Anstieg der Treibhausgase, der sich in Luftbläschen in Gletschern nachweisen lässt, verliefen nicht abrupt, sodass sich keine scharfe Grenzschicht erkennen lässt.
Der Beginn der Industrialisierung um 1800 wiederum, deren Abgase sich weltweit niederschlagen, ereignete sich nur in einem kleinen Teil der Welt, und der radioaktive Niederschlag der ersten Atombomben um 1945 kam zu spät.
Im März traf die SQS mit großer Mehrheit ihre Entscheidung: Ein Anthropozän sei mit der geologischen Zeitskala unvereinbar. Intern hatte es heftigen Streit und politische Manöver gegeben.
Verkompliziert hatte die Abstimmung, dass der Vorsitzende der zuständigen SQS, Jan Zalasiewicz, bis 2020 als Vorsitzender der AWG ein Vorkämpfer fürs Anthropozän gewesen war und zusammen mit seinem SQS-Stellvertreter Martin Head das Anliegen über Jahre vorangetrieben hatte. Geologen witterten einen Interessenkonflikt.
Interne E-Mails
Interne Kommunikation, die mir vorliegt, zeigt, wie Zalasiewicz und Head versucht haben, die Abstimmung über das Anthropozän zu torpedieren, weil sie nicht in ihrem Sinne verlief, und damit erheblichen Streit auslösten.
31. Oktober 2023: Die AWG hatte nach 15 Jahren Recherche endlich ihren Vorschlag für eine geologische Schicht zur Markierung des Anthropozäns an die zuständige Subkommission für Quartär-Stratigrafie SQS geschickt.
16. November 2023: Die SQS sandte den Vorschlag an die wahlberechtigten Geoforscher.
28. November 2023: Jetzt sollte eine einmonatige Debatte beginnen, vor allem per E-Mail. Doch kaum jemand reagierte. Der britische Geologe Mike Walker schickte eine Mail an die Gruppe, in der er seine Ablehnung einer Anthropozän-Epoche ausführlich begründete: Das Holozän sei bereits als Menschenzeitalter angelegt. „Der Mensch erscheint im Holozän“, schrieb Max Frisch.
14. Januar 2024: Anthropozän-Vorkämpfer Zalasiewicz drängte auf eine Verlängerung der Abstimmung. Nachdem sie bereits bis zum 15. Januar gestreckt worden war, schrieb Zalasiewicz am Vorabend des 15. eine Mail: Eine Beendigung der Wahl wäre „voreilig“, die Abstimmung „undurchsichtig“. Er stieß auf harten Widerspruch, der Streit eskalierte.
„Missbrauch”
Zalasiewicz und Head würden ihre Stellungen als Vorsitzende der SQS missbrauchen, um die Abstimmung zu blockieren, beschwerte sich ein Teilnehmer. Das sei „unakzeptabler Machtmissbrauch“ und „eindeutiger Interessenkonflikt“.
Die beiden seien anscheinend „besorgt wegen des Wahlergebnisses“, antwortete ein polnischer Geologe. Er sehe auch „keinen Grund das Anthropozän zu unterstützen“.
Warum bedürfe es einer weiteren Verlängerung, fragte verärgert ein niederländischer Kollege. „Was ist noch unklar? Es hat schon zu lange gedauert!“ Alle Argumente seien ausgetauscht.
„Die Diskussion wird wohl so lange fortgesetzt bis alle erschöpft sind“, kommentierte lakonisch ein britischer Teilnehmer der Abstimmung. Ein anderer sorgte sich, dass „wir in Gefahr sind, aus der Sicht zu verlieren, für was wir eigentlich da sind“.
Der deutsche Paläontologe Thomas Litt verwies auf seiner Meinung nach irreführende Äußerungen aus der AWG-Gruppe gegenüber großen Medien, die sich quasi als Lobby der Anthropozän-Befürworter hätten einspannen lassen und Druck ausübten auf den Entscheidungsprozess: „Wir dürfen uns nicht davon irritieren lassen“, warnte Litt seine Kollegen. Er fühle sich „sehr unwohl“ damit wie der Abstimmungsprozess verlaufe.
„Können uns das nicht gefallen lassen“
15. Januar 2024: Neun SQS-Mitglieder forderten in einer Mail eine rasche Wahl. Zalasiewicz versuchte auf Zeit zu spielen: Die Komplexität der Materie erfordere mehr Diskussionen. „Wir können uns das nicht gefallen lassen“, entgegnete ein Teilnehmer, er regte Protest an bei höheren Instanzen.
Mitte Januar 2024: Die Moderatoren der Abstimmung beraumten eine viertägige Frist an für die Bestimmung eines Termins für das Abstimmungsfinale. Das Ganze wäre eine „beispiellose Situation“ konstatierte die ICS in einer Mitteilung.
29. Januar 2024: Zalasiewicz mahnte in einer weiteren Mail mehr Transparenz, mehr Diskussionen, mehr Gründlichkeit an. Er bezeichnete den Abstimmungsprozess als „geschlossenes Tribunal“, in den er „kein Vertrauen“ habe.
30. Januar 2024: „Genug ist genug“, antwortete Thomas Litt, der Prozess verlaufe in aller Öffentlichkeit seit 16 Jahren, es sei „inakzeptabel anzunehmen, es gebe keine Transparenz“. Alle Argumente seien „wieder und wieder“ ausgetauscht worden.
„Dein Einfluss als Vorsitzender der SQS darauf den etablierten Wahlprozess zu verzögern, ist ein ernster Interessenskonflikt“, schrieb Litt, womit er auf Zalasiewiczs tragende Rolle in der AWG anspielte. Litt forderte Jan Zalasiewicz auf, die Abstimmung „nicht weiter zu unterminieren“.
„Gravierende Verstöße”
Der Geologe Mike Walker stimmte zu: „Ich kann Jans Mail nicht verstehen“, schrieb er. Die Mitglieder der SQS würden alle Argumente zum Anthropozän kennen; die Diskussion sei transparent über 16 Jahre zu verfolgen gewesen. Es wäre Zeit, das Thema abzuschließen.
Alle Mitglieder außer Zalasiewicz und Head stimmten für eine Fortsetzung der Wahl bis zum 3. März.
Doch auch nach Ablauf der Frist gab Zalasiewicz keine Ruhe, er verlangte die Aussetzung der Abstimmung.
Diesmal ignorierten die Wahlleiter der SQS den Einspruch wegen „des offensichtlichen Interessenkonflikts des SQS-Vorsitzenden“ als gleichzeitiger AWG-Chef – am 5. März schickten sie das Wahlergebnis an die Teilnehmer der Abstimmung.
Die Abstimmung war eindeutig: Zwölf stimmten gegen den Anthropozän-Antrag, vier dafür. Zalasiewicz und Head hatten nicht abgestimmt.
Die beiden versuchten nach der Wahl, das Ergebnis annullieren zu lassen, indem sie die Ethik-Kommission der International Union of Geological Sciences anriefen, des international bedeutendsten Geologenverbands.
In einem ausführlichen Protestbrief, den auch Journalisten erhielten, schrieb Zalasiewicz von „gravierenden Verstößen gegen die ICS-Statuten“. Aber ICS und IUGS wiesen sein Anliegen prompt und nahezu einstimmig ab.
„Ungewöhnliche Vorkommnisse“
Mir gegenüber kritisierten Zalasiewicz und Head die Institutionen: Die 15-jährige Debatte zuvor sei nicht entscheidend gewesen. Alle Argumente hätten nochmals ausgetauscht werden müssen im Zuge des Abstimmungsprozesses, aber das sei nicht geschehen. „Kein Teil dieses Prozesses fand statt, obwohl er auch vom früheren ICS-Vorsitzenden als wesentlich erachtet wurde“, klagen sie.
Die erneute Diskussion der Pro- und Contra-Argumente sei „verhindert worden“. „Mein Auftrag als Vorsitzender bestand darin, das ordnungsgemäße Verfahren bei der Bewertung des Vorschlags der Anthropozän-Arbeitsgruppe einzuhalten“, erklärt Zalasiewicz.
Von einem „sehr herausfordernden Prozess“ mit „ungewöhnlichen Vorkommnissen“ schrieben die Wahlmoderatoren der SQS. „Unzählige“ Treffen seien in den Jahren zuvor organisiert worden, um das Thema unter den Experten zu besprechen und auch nach Einreichung des AWG-Vorschlags. Dass es dennoch jene Verzögerungen gab, müsse aufgearbeitet werden.
“Betrügerisch”
Anstatt das wissenschaftliche Urteil zu akzeptieren, spannten Zalasiewicz und Head abermals erfolgreich Journalisten ein. Von einem „Palastputsch“ schrieben Medien, von „putineskem“ Verhalten, die Abstimmung sei übereilt worden und „betrügerisch“.
Das populärwissenschaftliche Wochenmagazin „New Scientist“ rückte die Ablehnung des Anthropozäns in die Nähe von Klimaleugnung.
„Mit wenigen Ausnahmen wurde leider auch in der deutschen Medienlandschaft eher das vermeintliche Skandalon bedient und weniger wissenschaftlich fundiert argumentiert“, klagt der deutsche Paläontologe Thomas Litt.
Die AWG musste sich nach Abgabe ihres Vorschlags für eine geologische Schicht satzungsgemäß auflösen. Unter Geologen ist es weiterhin schwierig, Fürsprecher des Anthropozäns zu finden.
Viele reagierten erleichtert auf den Ausgang der Abstimmung. Einer sagte mir: Chemiker würden ja auch nicht ihr Periodensystem der Elemente ändern, nur weil der Zeitgeist es verlangte. Axel Bojanowski
In meinem neuen Buch „Was Sie schon immer übers Klima wissen wollten, aber bisher nicht zu fragen wagten“ erzähle ich weitere Geschichten von der Klimaforschung zwischen Lobbyinteressen und Wissenschaft: