Beschleuniger gegen Traditionalisten
Aktuelle Wärmerekorde spalten die Gruppe medienpräsenter Klimaforscher
Wer die Grafiken sieht, muss stutzen oder erschrecken. Die Modellierungen der globalen Durchschnittstemperatur zeigen einen gewaltigen Sprung. Neue Rekorde übertreffen bei weitem bisherige Werte.
Der letzte Monat war nicht nur der heißeste September seit Beginn der Aufzeichnungen, sondern auch der Monat mit der größten Wärmeanomalie seit Beginn der Aufzeichnungen – die Temperaturen stiegen in einem ohnehin schon außergewöhnlichen Jahr noch weiter an.
Was geht vor?
Medienerfahrene Klimaforscher finden Worte, mit denen sie viele Likes und Millionen Impressionen für ihre dramatischen Postings gewinnen:
Manche sehen eine beginnende Beschleunigung der globalen Erwärmung. Ein Rückgang der Luftverschmutzung - weniger Aerosole - würden dafür sorgen, dass mehr Sonnenstrahlung durchkomme, was die Temperatur bis zu einem neuen Gleichgewicht beschleunigt erhöhen würde:
Der Kühlungseffekt der Aerosole schwindet seit rund 20 Jahren:
Der berühmte Klimaforscher James Hansen (NASA-GISS) warnt schon länger vor einer beschleunigten Erwärmung wegen des Aerosoleffekts.
Unstimmigkeit entzündet sich besonders an der Frage, ob der kurzfristige Temperaturanstieg mit bisherigen Szenarien übereinstimmt, oder ob er damit nicht erklärt werden kann.
Klimaforscher Michael Mann, kommunikativ sonst an vorderster Front in Sachen Eskalationsrhetorik, kocht die Aufregung diesmal herunter:
Er gerät damit in Widerspruch zu engen Weggefährten, die schreiben, der Temperatursprung sei unverstanden:
Es entstand eine Teilung in der Gruppe der medienpräsenten Klimaforscher zwischen jenen, die den Sprung als im Rahmen des Erwarteten ansehen und jenen, die ihn als bislang unerklärlich bewerten:
Die Einen üben deutliche Kritik an den publikumswirksamen Beiträgen der Anderen:
Mancher weist darauf hin, dass der Temperatursprung im Rahmen der aktuellen Projektionen liege (die allerdings als “zu heiß” gelten):
Professionellen Beobachtern der Klimadebatte fällt die neue Konstellation auf: “Die diesjährige wahnsinnige Hitze fiel mit einer gewissen Kluft zwischen zwei führenden ‘Wissenschaftsnarrativen zur Dringlichkeit des Klimas’ zusammen”, kommentiert der Politologe Ryan Katz-Rosene.
Auf der einen Seite stünden „die Traditionalisten“, auf der anderen Seite die „Beschleuniger“. Beide Lager seien “zunehmend frustriert voneinander”.
“Traditionalisten” glaubten, dass die „Beschleuniger“ mit “Doomerismus” die Tür öffneten zum riskanten Geoengineering, das etwa die Einbringung von Substanzen in die Stratosphäre vorsieht, um Sonnenstrahlung zu dimmen.
Die “Beschleuniger” hingegen meinten, die “Traditionalisten” würden das Risiko einer schnelleren Erwärmung ausblenden, was dazu verleite Klimaschutzmaßnahmen zu vernachlässigen.
Katz-Rosene skizziert das Risiko der Eskalationsrhetorik: In Jahren stockender Erwärmung wären Risiken heruntergespielt worden, jetzt bestünde die Gefahr, dass wegen kurzfristiger Schwankungen in die andere Richtung übertrieben würde.
Erklärungen für das Phänomen
Den 15-jährigen "Hiatus” etwa, eine Zeit kaum steigender globaler Temperatur von 1998 bis 2012, hatten Modelle nicht auf der Rechnung - ein Hinweis darauf, dass unerwartete Ausschläge möglich seien, meint Aurélien Ribes, Klimaforscher bei Meteo France.
Der Temperaturschub komme “überraschend und etwas unerwartet”. Er würde aber langfristige Trendschätzungen “wahrscheinlich” nicht in Frage stellen.
Unzulänglichkeiten der Computersimulation könnte eine Rolle spielen bei der Erzeugung der Extremtemperatur, meint Ribes: Die Modelle neigten unter bestimmten Umständen dazu, “sprungartige Zeitreihen zu erzeugen”.
Der Meteorologe Ryan Maue machte eine interessante Beobachtung: “Die einfachste Analyse besteht darin, September 2022 vom September 2023 abzuziehen: +0,58°C”, schreibt er.
“Der Übergang von La Niña zum kanonischen El Niño ist der offensichtliche Schuldige, insbesondere die Erwärmung der Oberflächentemperaturen im zentralen und östlichen tropischen Pazifik”, meint Maue. (La Niña = kalter Witterungszyklus, El Niño = warmer Teil des Zyklus):
Die Jury berät also noch. In ein paar Jahren, resümiert Ryan Katz-Rosene, ließe sich “etwas klarer zurückblicken”. Axel Bojanowski