Leider sind nicht alle Studien-Abstracts so deutlich wie jenes, dass unter der Überschrift “Treten große globale Erdbeben an bevorzugten Tagen des Kalenderjahres oder des Mondzyklus auf?” ohne Weiteres feststellte: „Nein“.
Meist ist es komplizierter. Diese Woche rätselte ich über eine Studie mit der sensationellen Überschrift „Observation of large and all-season ozone losses over the tropics“.
Ich las es mehrmals: Ein Ozonloch entdeckt. Über den Tropen. Weitaus größer als das bekannte Ozonloch über Antarktis. Es bestehe ganzjährig. Seit Jahrzehnten. Milliarden Menschen seien betroffen.
Wenn das stimmte, war es die Wissenschaftsmeldung des Jahres. Die Studie sorgte für Aufsehen.
Manche Dinge in der Studie machten mich skeptisch, aber Journalisten sollten sich nie einbilden, schlauer zu sein als Studienautoren mit Fachexpertise.
Ich fragte drei Experten, was sie von der Arbeit hielten. Ihre Antworten waren von seltener Deutlichkeit:
„Papier und auch das Internet sind geduldig. Man kann dort viel Unsinn drauf- oder auch hineinschreiben. So hier geschehen“, kommentierte Thomas Peter von der ETH Zürich.
„Ich sehe die Ergebnisse kritisch. Die Analysen und Interpretationen sind für mich nicht plausibel“, erklärte Martin Dameris vom Deutschen Zentrum für Luft- und Raumfahrt DLR. Die Arbeit enthalte keine Ergebnisse, die er für relevant halte.
Dameris nannte als wichtigste Gründe für seine Skepsis:
Vieles in dieser Arbeit ist im Konjunktiv formuliert. Dies ist nicht wissenschaftlich.
Die Änderungen werden „relativ“ (in Prozent) angegeben. Da sich die Ergebnisse auf den Höhenbereich zwischen 14 und 21 km beziehen, handelt es sich in den Tropen bzw. (Extra-)Tropen um andere (Höhen-)Regionen; in den Tropen befinden wir uns dort meistens in der oberen Troposphäre, außerhalb der Tropen in der unteren Stratosphäre.
Die relevanten Prozesse die Ozon beeinflussen sind in den Tropen und höheren geographischen Bereichen von unterschiedlicher Bedeutung: Die Tropen werden durch dynamische Prozesse stark beeinflusst (die auch durch den Klimawandel modifiziert werden), in den hohen Breiten ist es vor allem die Chemie der Stratosphäre.
Einige der Abbildungen deuten auf Fehler in den Datenanalysen hin.
Kathrin Baumann-Stanzer von der Zentralanstalt für Meteorologie und Geodynamik in Wien: “Mein erster Eindruck ist, dass jedenfalls der Titel „Entdeckung eines neuen Ozonlochs über den Tropen“ irreführend ist, da die im Paper dargestellten Auswertungen dieses Phänomen (eine relative Abnahme der stratosphärischen Ozonkonzentration über den Tropen im Vergleich zu den Werten der 60er Jahre) bereits seit den 70er Jahren zeigen.”
Wie aber hatte es die Studie in ein Wissenschaftsmagazin geschafft?
Kathrin Baumann-Stanzer: „Sie ist bislang nur in ‚Research Square‘ erschienen. Das ist, worauf auch im Paper hingewiesen wird, eine Plattform zur raschen Veröffentlichung von Ergebnissen, bevor sie einem wissenschaftlichen Reviewprozess unterzogen wurden. Die Auswertungen sind daher vorerst mit Vorbehalt zu betrachten und bedürfen noch einer Überprüfung im Fachkreis.“
Journale wie „Research Square“ wollen den Kommunikationsfluss der Wissenschaft beschleunigen, indem sie Studien direkt nach Einreichung online stellen, als sogenannte Preprints: Anstatt erst nach monatelanger Begutachtung können Ergebnisse auf diese Weise unmittelbar zur Verfügung gestellt werden.
Den Autoren bieten Preprints den Vorteil, dass sie umgehend eine zitierfähige Referenz vorweisen zu können.
Während der Covid-Krise sollten mit Preprint-Studien Informationen aus der Wissenschaft schneller Politik und Gesellschaft zur Verfügung gestellt werden. Auch dabei zeigte sich, dass manche Ergebnisse genauerer Prüfung nicht standhielten.
Greifen Medien Preprints auf, können problematische Schnellschüsse entstehen – wie im Falle des angeblichen Ozonlochs.
Einzelne-Studie-Syndrom
Das Preprint-Geschehen ist Teil eines größeren Problems im Journalismus: des Einzelne-Studie-Syndroms.
Medien-Sensationen, die auf einer einzigen Studie gründen, erweisen sich nicht selten als voreilig. Auch Studien aus begutachteten Journalen garantieren keine Validität.
Besondere Vorsicht ist gerade bei den bedeutendsten Wissenschaftsjournalen geboten, bei „Nature“ und „Science“, die mit ihren Veröffentlichungen auch auf Publicity in großen Medien abzielen.
Gewichtiges Beispiel ist ein „Nature“-Paper, dass behauptete, der Golfstrom hätte sich abgeschwächt. Die These stand auf dünner Basis: Daten von lediglich fünf Schiffsexpeditionen aus den Jahren 1957, 1981, 1992, 1998 und 2004 sollten die Abschwächung der Meeresströmung belegen.
Golfstrom-Geschichten
Die vermeintliche Abschwächung des Golfstroms schaffte es als große Schlagzeile in viele Medien, auch weil manche Klimaforscher die Studie beglaubigten („Klientelismus-Dilemma“).
Gut ein Jahr später wurde die Studie widerlegt, das Messergebnis war nicht signifikant. Andere Daten offenbarten, dass die Stärke des Golfstroms so stark schwankte, dass jene fünf Datenpunkte aus der „Nature“-Studie keine Aussage über Entwicklung der Meeresströmung zuließen, berichteten Ozeanografen in „Science“.
Die Studie, die entwarnte, blieb ohne großes Medienecho.
„Die Episode zeigte, wie Wissenschaft funktioniert“, sagte der Klimaforscher Michael Mann. Der Urheber der Golfstrom-Theorie, Wallace Broecker, ehrte das Fehler machen: Seine berühmte Idee vom Antrieb des Golfstroms fußte auf fehlerhaften Beobachtungen, pflegte er lakonisch zu erzählen.
Mediennutzer aber erfahren meist nichts von Korrekturen groß berichteter Studiensensationen. Die Rücknahme einer Katastrophenmeldung fällt üblicherweise klein aus, wenn sie überhaupt kommt.
Jetstream-Bohei
Diese Woche schlug das Einzelne-Studie-Syndrom noch einmal zu: Veränderungen des Jetstream würden Hitzewellen verstärken, lauteten Schlagzeilen. Sie bezogen sich auf eine Studie in „Nature Communication“, die über einen gut gebahnten Weg in die Massenmedien gelangte.
Die professionelle Pressestelle des Potsdam-Instituts für Klimafolgenforschung PIK schrieb eine gut verständliche und medienfreundliche Pressemitteilung, die wie üblich bei entsprechender Intonierung großen Anklang fand.
Wie sich der Jetstream entwickeln wird, ist seit Jahren eine unter Wissenschaftlern kontrovers diskutierte Frage, die kaum von einer neuen Studie entschieden werden kann. Aber dieser Kontext fehlt in den vielen Jetstream-macht-Wetter-schlimmer-Meldungen üblicherweise.
Wie beim Golfstrom machen auch beim Jetstream Studien Schlagzeilen, die negative Entwicklungen in Aussicht stellen. Die anderen haben wenig „News-Wert“.
Es braucht Journalisten wie Veronika Bräse von BR24, die Pressemitteilungen einordnen. Ihr Beitrag rückte die neue Jetstream-Studie zurecht:
Einzelne-Studie-Syndrom, no pasarán! Axel Bojanowski