"Die gegenwärtige Klasse von Klimamodellen gerät in zu viele Widersprüche mit der Wirklichkeit"
Führender Klimaforscher fordert Paradigmenwechsel
Skepsis gegenüber Ergebnissen der Klimaforschung käme nur von außen, so lautet ein verbreiteter Irrglaube. Dabei ist Skepsis ein immanentes Wesensmerkmal von Wissenschaft.
Zweifel werden allerdings meist nicht offensiv in die Öffentlichkeit getragen, weil sie dort auf andere Normen treffen als in der Wissenschaft und von Interessengruppen politisch vereinnahmt werden.
Einer der renommiertesten Klimaforscher äußerte seine Zweifel nun zwar nicht in aller Öffentlichkeit, aber immerhin in der deutschen Wissenschaftszeitschrift “Forschung und Lehre”.
Nein, die fortschreitende Erwärmung und einhergehende Risiken stellt er nicht infrage. Diese Erkenntnisse sind schon lange gut untermauert; andere Theorien bei weitem nicht so stichhaltig.
Jochem Marotzke, Co-Direktor am Max-Planck-Institut für Meteorologie in Hamburg, diagnostiziert in seinem Artikel dennoch eine Krise der Klimaforschung.
Erfolge
Zunächst aber stellt er die Robustheit grundsätzlicher Ergebnisse fest, indem er den aktuellen UN-Klimabericht (AR6, WG1) zitiert: „Es ist eindeutig, dass der Einfluss des Menschen die Atmosphäre, den Ozean und die Landflächen erwärmt hat.“
Marotzke betont:
“Diese Aussage war das Ergebnis jahrzehntelanger Forschung und vieler sich ergänzender Erkenntnisse.”
Marotzke nennt wesentliche Übereinstimmungen von Klimamodellen und Realität:
An der Oberfläche erwärmt sich die Arktis deutlich schneller als andere Regionen.
Die Stratosphäre kühlt ab, während sich die Troposphäre und die Erdoberfläche erwärmen.
Über Land erwärmt sich die Luft schneller als über den Ozeanen.
Für all diese Phänomene gibt es relativ einfache physikalische Erklärungen. Die wichtigsten Grundlagen der Klimaphysik schienen geklärt zu sein, schreibt Marotzke.
Problem
Doch dann erläutert Marotzke Probleme, die er unter Berufung auf einen kürzlich in “Nature” erschienen Aufsatz seiner Kollegen Tiffany Shaw und Bjorn Stevens “die andere Klimakrise” nennt - eine Krise der Forschung.
Marotzke diagnostiziert gravierende Probleme beim Verständnis konkreter Folgen der Erwärmung und ihren regionalen und zeitlichen Ausprägungen:
Bei einem der wichtigsten Zukunftsthemen herrscht große Ungewissheit: In großen Teilen der Welt widersprechen sich die Modelle in der Frage, ob es künftig mehr oder weniger regnen wird.
Die Erwärmung der Erdoberfläche zwischen 1998 und 2012 verlief deutlich langsamer als von den Modellen vorhergesagt (“Hiatus”).
Seit 1979 hat sich der tropische östliche Pazifik abgekühlt, entgegen den Erwartungen aller Modelle, die dort eine Erwärmung simulieren.
Auch die beobachtete Variabilität in der integralen Atlantikzirkulation, die für Europas mildes Klima entscheidend ist, unterscheidet sich deutlich von den Simulationen.
Der Rückgang des arktischen Meereises wird in den Modellen unterschätzt – mit Ausnahme derjenigen Modelle, welche die globale Erwärmung überschätzen.
Marotzke resümiert:
“Diese Diskrepanzen zwischen Modellsimulationen und Beobachtungen sind kein Randphänomen– sie markieren das, was gerade als „die andere Klimakrise“ bezeichnet wurde (Shaw & Stevens, 2025).
Gemeint ist damit eine wissenschaftliche Krise im Sinne von Thomas Kuhn. Der vorherrschende Zugang eines Forschungsfeldes hier: die gegenwärtige Klasse von Klimamodellen gerät in zu viele Widersprüche mit der Wirklichkeit.
Dies ist der Moment, in dem ein Paradigmenwechsel unausweichlich erscheint.”
Die angesprochene Klasse von Klimamodellen wird an mehr als 50 Institutionen weltweit betrieben und maßgeblich in den IPCC-Berichten verwendet.
Diskrepanz
Marotzke betont eine alt bekannte fundamentale Diskrepanz der Modelle:
“Prozesse, die auf kleinen räumlichen Skalen ablaufen – typischerweise unterhalb von etwa 50 bis 100 Kilometern – lassen sich nicht direkt darstellen. Für sie müssen Näherungen getroffen werden, sogenannte Parametrisierungen.”
Bislang schien die Modellierung der Näherungen vertretbar, weil die zentrale Hypothese zugrunde liegt, dass die Details der Wechselwirkung zwischen explizit simulierten und parametrisierten Prozessen keine entscheidende Rolle spielen.
Lange Zeit war das eine plausible Annahme, denn viele Modellrechnungen stimmten gut mit den Beobachtungen überein. Doch wie Marotzke ausführt, ist die vermeintliche Übereinstimmung in vielen Fällen brüchig geworden.
Ursachen
Was könnte die Ursache der Diskrepanzen zwischen Modellen und Realität sein?
Marotzke:
“Fast alle Fälle mangelnder Übereinstimmung lassen sich auf Änderungen in der Zirkulation zurückführen, in der Atmosphäre oder im Ozean. Und genau diese Zirkulation – das zeigt die Erfahrung aus Jahrzehnten der Wettervorhersage – ist eng mit Prozessen auf unterschiedlichen räumlichen Skalen verknüpft.”
Marotzkes Resümee:
“Dadurch gerät die zentrale Arbeitshypothese der heutigen Klimamodellierung ins Wanken, die davon ausgeht, dass sich große und kleine Skalen weitgehend unabhängig voneinander behandeln lassen.”
Lösungen?
Wie soll die Klimaforschung mit den Problemen umgehen? Marotzke sieht zwei grundlegend unterschiedliche Ansätze:
1)
Man könne annehmen, dass das Klimasystem ein gewisses Maß an unvorhersagbarem, im Wesentlichen zufälligen Rauschen enthalte, ähnlich wie jenem, das auch die Vorhersagbarkeit des Wetters auf etwa zwei Wochen begrenzt
“Besonders stark wirkt es sich auf die Zirkulation aus”, schreibt Marotzke. In den letzten Jahren seien gezielt Modellsimulationen mit minimalen Anfangsunterschieden durchgeführt worden, um diese internen Schwankungen, das Klimarauschen, zu erfassen.
“Sind die Abweichungen zwischen Modell und Beobachtung kleiner als die durch dieses Rauschen erzeugte Spannbreite, gelten sie nicht als Widerspruch, sondern als Ausdruck natürlicher Variabilität”, erläutert Marotzke.
Auf diese Weise konnten Marotzke und sein Kollege Piers Forster 2015 beispielsweise das Erwärmungsplateau zwischen 1998 und 2012 (“Hiatus”) auf Klimarauschen zurückführen.
2)
Es liege ein grundsätzlicherer und aufwendigerer Ansatz darin, die Modelle selbst zu verbessern, jedenfalls dort, wo das Klimarauschen die Diskrepanzen nicht erklären kann. “Dazu muss ein größerer Anteil der Prozesse direkt simuliert und ein geringerer Anteil parametrisiert werden, indem der Abstand im Rechengitter verringert wird”, schreibt Marotzke.
Physikalisch wäre ein Gitterabstand von wenigen Kilometern nötig. Doch jede Halbierung dieses Gitterabstands, zum Beispiel von 50 auf 25 Kilometer, verzehnfacht nahezu den Rechenaufwand. Nur wenige Institutionen weltweit können sich diesen Aufwand leisten.
Es sei deshalb verständlich, dass mancher diese Notwendigkeit lieber infrage stelle, “denn das Leben wäre zweifellos einfacher ohne sie”. An seinem Institut, dem Max-Planck-Institut für Meteorologie, seien jedoch “viele Personenjahre” investiert worden, um Simulationen mit deutlich feineren Rechengittern auf den leistungsstärksten verfügbaren Supercomputern durchführen zu können.
“Nur so”, meint Marotzke, “lässt sich der Kuhnschen Krise in der Klimaforschung wirksam begegnen. Er bilanziert: „’Die andere Klimakrise’ ist also eine wissenschaftliche - die Krise des Paradigmas.” Axel Bojanowski
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