Jochem Marotzke leitet als Direktor das Hamburger Max-Planck-Institut für Meteorologie, das seit Jahrzehnten zu den weltweit renommiertesten Instituten der Klimawissenschaft gehört. Marotzke hat führend an Sachstandsberichten des Weltklimarats (IPCC) mitgearbeitet und ist Mitglied der Wissenschaftlervereinigung Leopoldina und der Akademie der Technikwissenschaften.
Der MPI-Direktor steht selten in der Öffentlichkeit - im Gegensatz zu ein paar seiner Kollegen aus der Klimaforschung, die öffentliche Bekanntheit erlangten, weil sie nach Extremwetterereignissen in die Medien drängen und auf Sozialen Medien publikumswirksame Klima-Nachrichten schreiben.
Der “Südwest-Presse” hat Marotzke jetzt ein Interview gegeben. Es unterscheidet sich wesentlich von vielen Kommentaren seiner medienbekannten Forscherkollegen, deshalb hier ein paar kurze Auszüge.
Nach der Flutkatastrophe in Westdeutschland vergangenes Jahr hatten medienaffine Klimaforscher sogleich die globale Erwärmung als Ursache angeführt. Marotzke hingegen sagt, die Katastrophe sei “nur zu einem kleinen Teil der Klimawandel, solche Überflutungen hat es dort auch vor 200 Jahren gegeben”. Das Desaster im Ahrtal habe “uns vor Augen geführt, wie schlecht wir gewappnet sind”. “Hauptsächlich”, bemerkt Marotzke, “waren wir richtig schlecht vorbereitet”.
Klimaforscher und Medien hatten nach der Flutkatastrophe erklärt, dass Extremwetter wegen des Klimawandels länger verharren würden. Ob das wirklich so sei, wäre jedoch ungewiss, sagt Marotzke: “Im Wetterbericht wird oft so getan, als ob das völlig klar sei. Die Wahrheit ist aber: Nein, es ist überhaupt nicht klar”. Es gebe “zuwiderlaufende Effekte”.
Ob extreme Wetterlagen wie Starkregen oder die Überflutung des Ahrtals aufgrund der Erwärmung häufiger vorkommen werden, sei unklar, sagt Marotzke in dem Interview mit Igor Steinle von der “Südwest-Presse”.
Die Menschheit müsse ihren Fokus stärker auf Schutzmaßnahmen richten. “Auf diesem Gebiet muss mehr geschehen, auch im politischen Diskurs”, sagt Marotzke. “Es ist bisher viel attraktiver zu fordern, den Klimawandel aufzuhalten, als sich an ihn anzupassen”, bemängelt er in dem Interview.
Mit dem Katastrophismus der vergangenen Jahre ist der Klimaforscher nicht einverstanden: “Mich erschüttert, dass viele junge Menschen denken, sie hätten wegen des Klimawandels über die nächsten 30 Jahre hinaus keine Überlebenschancen. Diese Angst ist komplett unbegründet”.
Auch die häufig angedrohten Kipppunkte des Klimas, an denen sich negative Klimaentwicklungen unwiderruflich beschleunigen, hält Marotzke für wenig stichhaltig. “Dass sich diese Kipppunkte so prominent im Bewusstsein festgesetzt haben, führt zu übertriebener Sorge und letztlich dazu, dass man falsche Prioritäten setzt”, meint der Klimaforscher. “Meine Empfehlung wäre, sich lieber über den nächsten Starkniederschlag Gedanken zu machen, als darüber, dass jetzt das Methan aus dem Permafrostboden entweicht und uns alle umbringt.”
Entwarnung also? Nein: Die Erwärmung taue den Permafrost auf, entweichendes Treibhausgas verstärke den Klimawandel. “Aber dieser Effekt wird maßlos überschätzt”, sagt Marotzke.
Marotzke wünscht sich gemäßigtere Kommunikation seiner Kollegen: Manche Kollegen beschwörten Worst-Case-Szenarien und verstünden sich als Aktivisten. Er habe dazu ein “ambivalentes Verhältnis”. Man brauche “eine gesunde Distanz zu seinem Forschungsgegenstand”.
“Die Leute hören irgendwann nicht mehr zu, wenn immer nur die nächste Katastrophensau durchs Dorf gejagt wird”, sagt Marotzke. Das habe Folgen für die psychische Gesundheit der Menschen. Zudem drohe Unglaubwürdigkeit.
Die Welt werde nicht untergehen hinter der 1,5-Grad-Schwelle. “Viele werden dann sagen: Ihr Klimaforscher habt uns jahrzehntelang gesagt, wenn wir diese Marke überschreiten, sind wir verloren”. Es wäre fatal, wenn die Menschen dann den Glauben an die Notwendigkeit von Klimaschutz verlieren, mahnt Marotzke.
Dass es gelingen könnte, die Erwärmung auf 1,5 Grad über dem Niveau des 19. Jahrhunderts zu begrenzen, hält Marotzke für unwahrscheinlich. Zwei Grad hingegen lägen in Reichweite.
Der Klimawandel sei “ein ernstes Problem, auf das wir uns einstellen und alles versuchen müssen, ihn zu dämpfen”. Dass junge Menschen aber glaubten, ihr Überleben sei bedroht, sei “entsetzlich” und “komplett unbegründet”.
Ähnlich differenziert äußert sich der Klimaforscher zum schwindenden Meereis in der Arktis. Es taue zwar, ein Kipppunkt sei jedoch nicht zu erwarten: “Hier bin ich mir am sichersten, dass das kein Kipppunkt ist. Das Eis kommt immer wieder”, sagt der Max-Planck-Direktor. Das hätten Modellierungen demonstriert.
Das grönländische Eisschild hingegen sei bedroht. Würde keine neue Eiszeit kommen und das Eis verschwinden, würde das Schmelzwasser den Meeresspiegel um sieben Meter steigen lassen. “Das ist zwar viel, es dauert aber 2000 bis 3000 Jahre”, erläutert Marotzke.
Marotzke war in den 1980er-Jahren Pionier der Golfstrom-Forschung in Deutschland. Den gerne beschworenen Kollaps der Warmwasserströmung nach Europa hält er für “sehr unwahrscheinlich”. Das Bild, dass die Meeresheizung wegfallen würde, sei absurd. “Man muss sich schon entscheiden, welche Paranoia einen umbringen soll, Abkühlung oder Erwärmung”, sagt Marotzke. Axel Bojanowski
Hier habe ich prägnant zusammengefasst, was über Kipppunkte bekannt ist: