Zum Ritual der Klimadebatte gehört seit den Neunzigerjahren die Warnung vor dem “Golfstrom-Kollaps”. Diese Woche war es wieder soweit. Eine dubiose Studie sorgte weltweit für Schlagzeilen.
(Wie üblich war in den Medien häufig vom Golfstrom die Rede, obwohl stets sein nördlicher Ausläufer gemeint ist, die Atlantic Meridional Overturning Circulation, kurz: AMOC.)
Das Ritual ist so gefestigt, dass zu jeder “Golfstrom-Warnung” dieselben Akteure auftreten, um die Gunst der Stunde zu nutzen, sich und ihre Theorie zu vermarkten:
Neu war diesmal, dass das deutsche “Science Media Center”, ein journalistischer Service für Redaktionen, vor Ablauf der Sperrfrist der Studie Einschätzungen von Ozeanforschern, die normalerweise nicht an der Mediendebatte teilnehmen, an Redaktionen schickte.
Von den angefragten Experten äußerten einige sanfte Kritik (keine Selbstverständlichkeit: Öffentliche Kritik an Kollegen kostet Wissenschaftlern meist Überwindung). So fanden sich in manchen Medienberichten diesmal auch kritische Stimmen zur neuen Studie. Ein Fortschritt!
Die Schlagzeilen und das Gewese auf Social Media allerdings bestimmte wie üblich das Katastrophenszenario eines Kollaps der Meeresströmung, das seit dem Kinofilm “The Day After Tomorrow” von 2004 zum eingeübten Alltagswissen gehört.
Die 90er-Jahre
Wichtigstes Phänomen des medialen Golfstrom-Rituals ist der ewige Widerspruch zum Bericht des UN-Klimarats, der alle paar Jahre das Klimawissen zusammenfasst.
Die schlagzeilenmachenden Studien der vergangenen 30 Jahre zum voraussichtlichen Kollaps konnten nie dafür sorgen, dass der Klimarat IPCC seine zurückhaltende Bewertung des Risikos im nächsten Klimareport geändert hätte.
“Der Lebensnerv Europas könnte in naher Zukunft versiegen”, schrieb der “Spiegel” 1991 über den Golfstrom. „Leute, die glauben, dass uns der Treibhauseffekt ein wärmeres Klima bringt, sind auf der falschen Spur“, zitierte das Magazin einen Meeresforscher.
Ein paar Jahre später schien die Strömung kollabiert: “Exakt dieser Umschlag ist nun offensichtlich wie eine klirrende Faust über die Republik hereingebrochen”, schrieb der “Spiegel” im Januar 1997.
Die 2000er
Weiterhin warnten Medien vor dem Abriss der Strömungen und einhergehender “Eiszeit in Europa” - das “Schicksal der Antarktis” stellte der “Spiegel” Europa in Aussicht.
Einer der Urväter der Theorie vom kollabierenden Nordatlantikstrom, Wallace Broecker von der Columbia University, versuchte zu bremsen: 2004 kritisierte er im Wissenschaftsmagazin „Science“ die „übertriebenen Szenarien in den Medien“.
Doch da ging es erst richtig los.
2005 sorgte eine „Nature“-Studie für Furore: Die warme Strömung aus dem Süden transportiere ein Drittel weniger Wasser als früher. Es war eine Hauptnachricht von “Tagesschau” bis “Bild”:
Die alarmierende These beruhte lediglich auf fünf Schiffsexpeditionen aus den Jahren 1957, 1981, 1992, 1998 und 2004; sie präsentierte also nur fünf Datenpunkte aus knapp 47 Jahren.
Dennoch befeuerten selbst Meeresforscher den Alarm - teils dieselben Wissenschaftler, die auch aktuell wieder vorpreschten:
Ein paar Monate später aber war auch diese Arbeit widerlegt, das Messergebnis war nicht signifikant.
Die Variabilität der Nordatlantikströmungen sei so hoch, dass die zuvor festgestellte vermeintliche Abschwächung im Rauschen der Daten verschwinde, berichteten die Ozeanforscher:
Seit 2004 gibt es systematische Messungen, die ebenfalls bestätigen, dass die AMOC höchst variabel ist. 2009/2010 stoppte die Nordströmung gar und kehrte sich aufgrund veränderte Winde kurzzeitig um, wie die Daten zeigen:
Die 2010er
Doch der jährliche Alarm vom drohenden Kollaps ging weiter.
2020 machte das Golfstromsystem angeblich schlapp:
Im Februar 2021 gab es eine neue Studie, die das Abschwächen abermals zeigen sollte:
Auch diese Studie wurde sogleich entlarvt: Es sei nur ein Teil der relevanten Indizien ausgewertet worden, monierten Meeresforscher in «Nature Geoscience». Andere Indizien wären weggelassen worden, ohne Gründe dafür zu nennen.
Was sagt der aktuelle IPCC-Report zur Entwicklung der AMOC in den vergangenen Jahrzehnten? “Low Confidence” als Bewertung für eine mögliche Abschwächung:
In summary, proxy-based reconstructions suggest that the AMOC was relatively stable during the past 8 kyr (medium confidence), with a weakening beginning since the late 19th century (medium confidence), but due to a lack of direct observations, confidence in an overall decline of AMOC during the 20th century is low. From the mid-2000s to mid-2010s, the directly observed weakening in AMOC (high confidence) cannot be distinguished between decadal-scale variability or a long-term trend (high confidence).
Die Neuauflage
Diese Woche also das altbekannte Ritual: Schon ab 2025, wahrscheinlich Mitte dieses Jahrhunderts, könnte die AMOC kollabieren, behaupteten zwei Wissenschaftler im Fachjournal „Nature Communication“.
Der Co-Direktor am Max-Planck-Institut für Meteorologie, Jochem Marotzke, ein Pionier der AMOC-Forschung, kritisierte die Studie scharf. Im Gespräch mit mir für WELT sagte er zum Beispiel:
Jochem Marotzke: Ich wundere mich, dass die Studie die Begutachtung überstand und so publiziert werden konnte. Die Behauptung, es werde in diesem Jahrhundert zum Kollaps der Meeresströmung kommen, steht auf tönernen Füßen. Die Mathematik wird zwar fachkundig ausgeführt, aber die Voraussetzungen der Rechnungen sind höchst zweifelhaft.
WELT: Welche Voraussetzungen?
Marotzke: Die Interpretation verlässt sich darauf, dass das theoretische Verständnis über die Meeresströmung korrekt ist, doch daran sind riesige Zweifel angebracht. Es werden beispielsweise Messungen der Meeresoberflächentemperatur als Indikator für die Stärke der Strömung genutzt, aber diese Interpretation ist höchst unsicher.
WELT: Im aktuellen UN-Klimareport, an dem Sie mitwirkten, steht, es sei mit mittlerer Sicherheit auszuschließen, dass es vor 2100 zu einem abrupten Zusammenbruch der Strömung kommen werde. (“There is medium confidence that there will not be an abrupt collapse before 2100.”) Das klingt nicht gerade beruhigend, oder?
Marotzke: Die Formulierung soll bedeuten, dass wir denken, es werde keinen Kollaps geben, weil keines der für den Klimabericht benutzten Klimamodelle einen Kollaps zeigt. Aber die Modelle haben Schwächen, deshalb können wir nicht sicher sein.
WELT: Was würde ein Kollaps der Nordatlantik-Strömung denn bedeuten?
Marotzke: Der gravierendste Effekt wäre wohl, dass Westeuropa sich abkühlen würde. Allerdings würde der Effekt abgepuffert von der fortschreitenden globalen Erwärmung.
WELT: Sie waren vor 40 Jahren Pionier bei der Erforschung jener Meeresströmung, die landläufig Golfstrom genannt wird, obwohl sie weiter nördlich liegt. Welchen Erkenntnisfortschritt gab es seither?
Marotzke: Moderne Klimamodelle zeigen kaum noch, dass dieses System kippen könnte. Das bedeutet aber nicht, dass das stimmen muss; vielleicht neigen moderne Modelle zu unrealistischer Stabilisierung. Oder die Kipppunkte waren im Gegenteil ein Artefakt der einfachen Modelle zu meiner Zeit als Doktorand. Wir wissen es nicht.
WELT: Glauben Sie, die neue Studie, die nun den Kollaps der Nordatlantik-Strömung prognostiziert, wird die Bewertung des UN-Klimarats über das Risiko ändern?
Marotzke: Nein.
WELT: Immer wieder machen Studien Schlagzeilen, die den bevorstehenden Kollaps der nordatlantischen Meeresströmung prophezeien. Im UN-Klimabericht liest es sich jedoch anders. Die Strömung sei stabil, werde sich im Zuge des Klimawandels wohl abschwächen – wie stark, sei unklar, heißt es. (The Atlantic Meridional Overturning Circulation is very likely to weaken over the 21st century for all emissions scenarios. While there is high confidence in the 21st century decline, there is only low confidence in the magnitude of the trend.”) Warum schaffen es nur Warnungen in die Schlagzeilen?
Marotzke: Selbst in Wissenschaftsmagazinen haben entsprechende Studien größere Chancen. Abwägende Risiko-Kommunikation verspricht eben keine Aufmerksamkeit.
Es lief diese Woche also wie eh und je: Eine medial anschlussfähige Apokalypse-Studie widersprach dem Sachstandsbericht des Weltklimarats IPCC und wurde dennoch als neuer Sachstand verkauft.
Wallace Broecker, einer der Urväter der AMOC-Forschung, hatte Mitte der 1980er-Jahre ebenfalls vor dem Versiegen der AMOC gewarnt. Im Gegensatz zu heutigen Mahnern aber vergaß er nicht, auf die gravierenden Unsicherheiten hinzuweisen.
Das von ihm postulierte Kippen könnte nicht nur das Strömungssystem betreffen, schrieb Broecker in seiner Biografie, sondern auch seine Meinung zu der Theorie. Solche Unsicherheit wäre aber nicht schlimm, es wäre schlicht die „Natur von Theorien über Geoforschung.“ Axel Bojanowski