Das Klima kippt, Punkt?
Stefan Rahmstorfs Deutung von Kipppunkten im Widerspruch zur Kollegenschaft
Misstrauen in Experten stellt Gesellschaften vor Probleme:
Wissenschaft wird zur Frage politischer Orientierung.
Experten profilieren sich als Stichwortgeber für mächtige Interessengruppen.
Politiker verstecken ihre Verantwortung hinter Wissenschaftlern.
Besonders problematisch ist die Klimadebatte. Eigennützige Kommunikation mancher Experten schürt Misstrauen.
Forschern, die den Stand der Wissenschaft verzerrt katastrophistisch wiedergeben, wird öffentlich selten widersprochen. Klima geriet zum identitäts- und machtstiftenden Politikum, das bei Abweichung soziale und berufliche Risiken birgt.
Wichtiges Mittel im Agenda-Setting sind Kipppunkte, theoretische Schwellen im Klimasystem, die unwiderrufliche Änderungen beschreiben sollen.
Kipppunkte sind nicht nur eine mögliche Bedrohung, sie dienen als Argument für die Priorisierung des Klimathemas und seiner Profiteure aus Politik, Medien, Wissenschaft und Zivilgesellschaft.
Kipppunkte sind ein wichtiges Thema, das mehr Forschung verdient, ihre wissenschaftliche Grundierung aber ist höchst fragil.
Der „Spiegel“, der Klimaschutz zur redaktionellen Agenda erklärt hat, lässt den Klimaforscher Stefan Rahmstorf vom Potsdam-Institut für Klimafolgenforschung (PIK) alle paar Wochen seine Sicht auf den Klimawandel in einem Text beschreiben.
Die Kolumne böte eine Fundgrube für Kommunikationsforscher, die politische Schlagseite in wissenschaftlicher Literatur untersuchen.
Rahmstorfs jüngster Text über Kipppunkte verdeutlicht die Methode.
Rahmstorf bezieht sich nur dreimal auf den aktuellen UN-Klimareport, dafür wie üblich gerne auf sich selbst und mit ihm verbandelte Wissenschaftler.
Der erste Satz seines Artikels lautet: „97-mal steht der Begriff ‚Kipppunkt‘ allein im ersten Band des aktuellen Weltklimaberichts“. Den im Klimabericht dargestellten Sachstand der Wissenschaft zu Kipppunkten aber ignoriert Rahmstorf weitgehend.
Rahmstorf:
„Sechs Kipppunkte in akuter Gefahr.“
„Gefährliche Dominoeffekte.“
„Heute zeigt die beste Abschätzung, dass solche Ereignisse [Kipppunkte] schon unter zwei Grad Erwärmung wahrscheinlich werden.“
Führende Kollegen aus der Klimaforschung äußern sich vollkommen anders über Kipppunkte als Rahmstorf:
Martin Claußen, emeritierter Direktor des Max-Planck-Instituts für Meteorologie (MPI-M), dem bedeutendsten deutschen Klimaforschungsinstitut, hält schon die Existenz von Kipppunkten für unsicher: „Die Forschung ist noch nicht so weit, dass man von allgemein anerkannten zukünftigen Kippelementen sprechen könne“, sagte Claußen.
Jochem Marotzke, aktueller Direktor des MPI-M, äußerte sich skeptisch über Kipppunkte: „Ehe wir uns auf künftige Nichtlinearitäten im Klimageschehen einstellen, sollten wir uns vergewissern, dass es sie überhaupt gibt“, sagte Marotzke.
„Die Erfahrung hat mich gelehrt, dass die Nichtlinearitäten umso weniger sichtbar werden, je komplexer wir unsere Modelle konstruieren“, sagt er. Je realistischer das System, das auf dem Computer simuliert werde, desto stabiler scheine es zu werden.
Auf die Frage, welcher Kipppunkt ihm am meisten Sorge mache, erwiderte Jochem Marotzke: „Keiner.”
“Dass sich diese Kipppunkte so prominent im Bewusstsein festgesetzt haben, führt zu übertriebener Sorge und letztlich dazu, dass man falsche Prioritäten setzt”, meint der Klimaforscher.
Marotzkes Vorgänger als Direktor des Max-Planck-Instituts für Meteologie, Lennart Bengtsson, zweifelt grundsätzlich an der Existenz der Klima-Kipppunkte. „Kipppunkte sind Eigenschaften einfacher nichtlinearer mathematischer Systeme und nicht unbedingt Eigenschaften des realen Klimasystems und der thermischen Trägheit, die sich aus der riesigen Masse des Ozeans und des Landeises ergibt”, schreibt Bengtsson.
Ähnlich äußerte sich der bekannte Klimaforscher Zeke Hausfather: „Unsere Modelle berücksichtigen heute so ziemlich alle wichtigen Rückkopplungen oder Kippelemente, von denen wir wissen. Und sie zeigen im Allgemeinen, dass die Reaktion des Klimas ziemlich linear ist.
Für eine bestimmte Menge CO2, die emittiert wird, erhält man ein bestimmtes Maß an Erwärmung. Große Klimaüberraschungen sehen wir in einer Welt mit 2 Grad Erwärmung sicher nicht”, sagt Hausfather.
Auch der jüngste Sachstandsreport des UN-Klimarats IPCC kommt zu anderen Ergebnissen über Kipppunkte als Rahmstorf:
“Ungenügende Evidenz”
“Können nicht ausgeschlossen werden”
“Mangel an Daten”
“Challenging Topic”
Anstatt auf den UN-Klimareport beruft sich Rahmstorf vor allem auf einen Aufsatz, der jüngst in „Science“ erschien, und der das Wissen über Kipppunkte pointiert interpretierte.
Der “Science”-Aufsatz müsste aber mit Vorsicht rezipiert werden, kommentierte der Glaziologe Philippe Huybrechts von der Vrije Universiteit Brussel, ein renommierter Experte für die Dynamik globaler Eismassen: Die Übersichtsarbeit in “Science” sei politisch gefärbt, Berichte des UN-Klimarats seien vorsichtiger gehalten. „Wir wollen unsere Aussagen ja nicht schon in fünf Jahren wieder revidieren“, sagte Huybrechts.
Rahmstorf erläutert sechs mögliche Kipppunkte. Hier dazu ein Vergleich mit dem UN-Klimabericht:
1. Atlantikzirkulation: Rahmstorf beschreibt ein dramatisches Szenario, wonach das System kippt, die Folge: „Meeresökosystemen droht der Kollaps, es gibt nie gekannte Wetterextreme in Europa“.
Rahmstorf erwähnt nicht, dass der UN-Klimareport „low confidence“ ausweist für die Rahmstorf-These von einer bereits vollzogenen Abschwächung der Atlantikzirkulation (Rahmstorf: „Der Golfstrom macht schlapp“).
Eine Abschwächung der Strömung in Zukunft ist laut Klimarat wahrscheinlich, die Stärke der Abschwächung aber vollkommen unklar.
Zitate aus dem aktuellen UN-Klimareport zur Atlantikzirkulation (Atlantic Meridional Overturning Circulation, AMOC):
„In summary, proxy-based reconstructions suggest that the AMOC was relatively stable during the past 8 kyr (medium confidence), with a weakening beginning since the late 19th century (medium confidence), but due to a lack of direct observations, confidence in an overall decline of AMOC during the 20th century is low.“
„From the mid-2000s to mid-2010s, the directly observed weakening in AMOC (high confidence) cannot be distinguished between decadal-scale variability or a long-term trend (high confidence).“
„The Atlantic Meridional Overturning Circulation is very likely to weaken over the 21st century for all emissions scenarios. While there is high confidence in the 21st century decline, there is only low confidence in the magnitude of the trend.“
(Anmerkung: Die “Confidence”-Skala des IPCC wird kritisiert, weil selbst “Low Confidence” suggeriert, dass nur Belege fehlen, aber die These stimmt. Dabei bedeutet “Low Confidence”, dass die Indizienlage für eine These schlecht ist, oder/und dass sie unter Experten besonders umstritten ist.)
2. Grönlandeis: „Schon in den nächsten 20 Jahren droht das System zu kippen, was kommende Generationen dazu verurteilt, die meisten Küstenstädte aufzugeben“, schreibt Rahmstorf im „Spiegel“.
Der UN-Klimarat hingegen schreibt zum Greenland Ice Sheet: „Potential Abrupt Climate Change? No (high confidence)“. [Anmerkung: Eisverlust in Grönland ist unstrittig ein bedeutendes Klimawandelrisiko, hier geht es aber um die Kipppunkt-Aussagen.]
3. Antarktiseis: Beim Westantarktischen Eisschild könnte der Kipppunkt bereits überschritten sein, schreibt Rahmstorf im „Spiegel“. Wahrscheinlich liege er aber zwischen 1,5 und 2 Grad Erderwärmung. Drei Meter globaler Meeresspiegelanstieg wären die Folge. „Ähnliches gilt für die beiden Kipppunkte am Ostantarktischen Eisschild“, schreibt Rahmstorf.
Den Ostantarktischen Eisschild (EAIS) nennt der UN-Klimareport allerdings gar nicht in seiner Liste über Phänomene mit theoretischen Kipppunkt-Eigenschaften.
Zum EAIS schreibt der Report:
„If warming exceeds around 3°C above pre-industrial, part of the EAIS is projected to be lost on multi-millennial time scales (low confidence).“
„It is currently unclear whether mass loss of the EAIS over the last three decades has been significant.“
Über des West Antarctic Ice Shield (WAIS) schreibt der neue UN-Klimareport, dass in der Tat eine Stabilitätsgrenze nahe bei 1,5 bis 2 Grad liegen könnte, das Wissen darüber aber unsicher sei, und dass ein Teil des Eises gleichwohl bereits irreversibel verloren sein könnte. Für Komplettverlust des Eises bis 2 Grad Erwärmung gebe es ungenügende Belege, es würde jedenfalls Jahrtausende dauern:
„However, whether unstable WAIS retreat had begun, or was imminent, remained a critical uncertainty. New publications since SROCC have not substantially clarified this question.“ (SROCC = Special Report on the Ocean and Cryosphere in a Changing Climate von 2018).
„…that some degree of irreversible loss of the West Antarctic Ice Sheet (WAIS) may have already begun.“
„…a threshold for WAIS instability may be close to 1.5°C–2°C (medium confidence).“
„…projections agree with previous studies that only part of WAIS would be lost on multi-century time scales if warming remains less than 2°C (medium confidence). There is limited agreement about whether complete disintegration would eventually occur at this level of warming, but medium confidence this would take millennia.“
„Under around 2°C–3°C peak warming, complete or near-complete loss of the WAIS is projected in most studies after multiple millennia (low confidence).“
4. Zum Permafrost schreibt Rahmstorf von einer „Kompostbombe“, die einen selbstverstärkenden Prozess auslöse: „Dabei werden große Mengen des sehr potenten Treibhausgases Methan freigesetzt, was die globale Erwärmung weiter anheizt, ohne dass die Menschen dann noch etwas dagegen tun können“.
Der UN-Klimarat sieht Potential für abrupte Änderung, hält weiteres Tauen für so gut wie sicher, über das Ausmaß herrsche aber Ungewissheit:
„Potential Abrupt Climate Change? Yes (high confidence).“
„Loss of permafrost carbon following permafrost thaw is irreversible at centennial time scales (high confidence).
"Projected 21st Century Change Under Continued Warming: Virtually certain decline in frozen carbon; low confidence in net carbon change"
Die Einschätzung einer Permafrost-Spezialistin in Sachen „Kompostbombe“:
5. Der Kipppunkt des Amazonas-Regenwalds, schreibt Rahmstorf, werde überschritten, „wenn der Wald zu weit abgeholzt wird und/oder Dürren durch den Klimawandel zu stark ausfallen“.
Und weiter: „Das bedeutet einen verheerenden Verlust von Tier- und Pflanzenarten, regionale Klimaveränderungen, große Waldbrände und Freisetzung von CO₂, das die Erwärmung zusätzlich anheizt“.
Der UN-Klimareport benennt das Risiko, aber gibt nur „low confidence“ auf die Beweislage: „Continued Amazon deforestation, combined with a warming climate, raises the probability that this ecosystem will cross a tipping point into a dry state during the 21st century (low confidence).“
6. Der Kipppunkt bei Korallenriffen, schreibt Rahmstorf, „ist offenbar bereits erreicht“: „Seit 2015 befinden wir uns in einem weltweiten Korallensterben. Der Weltklimarat IPCC schätzt, dass bei Begrenzung der Erderwärmung auf 1,5 Grad Celsius noch 10 bis 30 Prozent der Korallenriffe gerettet werden können, bei zwei Grad Erwärmung wären so gut wie alle verloren.“
Der Weltklimarat hingegen schreibt etwas anderes:
Bei 1,5 Grad Erwärmung würden die meisten Korallenriffe kleiner (nicht “wären so gut wie verloren”): „For instance, 70–90% of coral reefs are projected to decline at a warming level of 1.5°C, with larger losses at 2°C.“
Wohlgemerkt: Der UN-Klimabericht dokumentiert erhebliche Risiken aufgrund der globalen Erwärmung, besonders in Sachen Grönland und Westantarktis: Eisverlust könnte beträchtlich sein mit erheblichen Folgen für den Meeresspiegelanstieg - im Laufe von Jahrhunderten oder Jahrtausenden.
Indes: Rahmstorfs Aussagen lassen sich anhand des UN-Klimareport großteils nicht bestätigen.
Was Rahmstorf ebenfalls nicht erwähnt, sind prinzipielle Einschränkungen.
Beispielsweise wäre „Overshooting“ möglich: Erwärmung oberhalb theoretischer Kipppunkte, begrenzt auf Jahrzehnte, bedeutete nicht unbedingt das Auslösen von Kipppunkten, sofern es sie gäbe.
Auch dass Klimaforscher aus grundsätzlichen Überlegungen heraus an Kipppunkten im Klimasystem zweifeln, wäre eine Erwähnung wert (ein komplexes System mit vielen Freiheitsgraden lasse sich nicht mit einem kippelnden Stuhl oder einem kenternden Boot vergleichen, wie es Rahmstorf tut).
Politisch werden Rahmstorfs Vorlagen genutzt:
Rahmstorf legitimiert die politische Verwendung der Kipppunkte auch für die Vermarktung eigener Werke:
Die Rahmstorf-Kolumne im „Spiegel“ zeigt, wie problematisch es sein kann, einen einzelnen Wissenschaftler mit eigenen Zielen den Stand der Forschung darlegen zu lassen. Einer Agenda mag es helfen, aber wohl kaum dem Informationsbedürfnis der Leser. Axel Bojanowski
Nachtrag: Lesen Sie hier, wie die Kipppunkte in die Klimadebatte kamen und mit welch zweifelhaften Methoden sie zu wissenschaftlichem Status gelangten: